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Antarktis oder Arktis - Wo ist es kälter?

90 Grad Nord sind nicht greifbar

Am Mittag des 28. April sind wir nach einem Gewaltmarsch noch lächerliche vier Kilometer vom Ziel entfernt. Zuhause wären das beim Lauftraining keine zwanzig Minuten, auf dem Treibeis herrschen jedoch andere Gesetze. Das Gelände ist katastrophal. Trotzdem hochmotiviert beschließen wir: „Wir ziehen durch!" Das Ziel ist vor Augen - und doch nicht da. Nach neun Stunden Eischaos wühlen wir unter der Persenning das GPS hervor. Ich stecke es unter den Anorak und wärme es am straff gewordenen Bauch. Es braucht fünf Minuten, bis genügend Satelliten „eingefangen" sind. Noch 400 Meter. Gespannt spuren wir durch das milchige Licht des aufziehenden Schlechtwetters.

Noch 200 Meter, dann wieder 600. Wir stehen auf dem Dach der Welt, die einen Umfang von etwa 40 000 Kilometern hat. Das sind vierzig Millionen Meter! Was bedeuten in Anbetracht dieses gewaltigen Umfangs 200 Meter? Der Punkt unserer Phantasie ist ganz nahe, trotzdem nicht greifbar und auf einige Meter nicht bestimmbar. Ich verkünde final: „Wir sind da!" Ins Tagebuch tragen wir ein: 89 Grad, 59 Minuten, 31 Sekunden, 28. April, 18.52 Uhr. Höhe Null Meter.

Wir sind alle ein bißchen rührselig, umarmen uns und wünschen uns verlegen und auf Normalnull unpassend „Berg Heil!" Kein Gipfelkreuz markiert den flüchtigen Platz menschlicher Sehnsucht. Der Nordpol ist der „höchste" Punkt des Globus und trotzdem kein Berggipfel. Er ist die Verkörperung der Geometrie, der Mathematik - und unserer Phantasie. Ausgerechnet Walter Thomas, unser Ältester, redet von „einem Orgasmus der besonderen Art". Der Freund Thomas Pientka ist mit 32 Jahren wahrscheinlich der Jüngste, der je den Pol aus eigener Kraft erreichte. Das Team verkörpert die 1. Deutsche Nordpol-Ski-Expedition, als wenn es wichtig wäre, in welchem Land man geboren wurde. Es ist weniger eine große Leistung, den Pol aus eigener Kraft zu erreichen, als vielmehr eine Gnade, so etwas tun zu dürfen.

Die Dramaturgie ist filmreif. Fünf Minuten nach der Begegnung mit dem Endpunkt wütet ein Blizzard. Die Zelte aufzuschlagen wird zur Gruppenleistung. Noch einmal zeigt sich, daß in dieser Wildnis nur ein starkes Team Erfolg hat. 40 Stunden liegen wir in den flatternden Zelten und driften mit „unserer" Scholle 15 Kilometer nach Süden.
Waren es 200 Kilometer, die wir durch das Zick-Zack-Terrain spurten? Oder 50 mehr? Wir konnten es nicht messen, es ist uns auch nicht wichtig. Eines wissen wir jedoch: Es war eine spannende Skitour und eine ordentliche alpinistische Leistung.

Nicht weit vom Südpol
Der Nordpol
Der Weg war nie das Ziel
Bücher von Michael Vogeley
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Autor: Michael Vogeley
erstellt: 07.03.2004
gelesen: 26672 mal
Stichworte: Antarktis, Arktis, South Georgia, Abenteuer, Nordpol, Südpol
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