Europa im SommerVon allem befreit ein paar Tage an der Küste. Für Politik muss man sich nicht mehr interessieren. Es weiß zwar noch niemand, ob es Neuwahlen gibt, aber jeder weiß, wie diese ausgehen werden. Doch es ist völlig einerlei. Die Neue Regierung macht das Gleiche wie die alte, egal welche es ist. Dieses Einerlei befreit. Auch an die Börse muss man nicht denken. Sie steigt mit schöner Regelmäßigkeit weiter in die Höhe. Der Triumph der Finanzen über die Politik könnte nicht überzeugender ausfallen. Wer jetzt keine Aktien hat, wird lange keine haben.
In der Wirtschaft weitet sich die Regentschaft des Hamsterrades aus. Wer nicht Ferien macht, muss strampeln, um sein Leben strampeln. In Holland ist ein ganzes Land „te huur“ und „te koop“. Verhuren und auf den Kopf hauen? Nein, zu mieten und zu kaufen. Ausdruck wirtschaftlicher Schwäche oder von Überspekulation im Immobilienmarkt?
Am Meer ist es erstaunlich leer. Auch ein Anzeichen wirtschaftlicher Schwäche – oder sind die Menschen alle in der Karibik? Normale Ferien gibt es nicht mehr. Es muss rund um die Uhr getrunken, gegessen und sich amüsiert werden. Das Hamsterrad muss laufen – volle Geschwindigkeit voraus. Der ganze Strand ist gesäumt von Restaurant-Buden. Doch das reicht nicht: Bei Ebbe fahren von Treckern gezogene Verkaufswagen den Strand entlang, halten, es wird die Glocke geschlagen: Noch ein wenig Appetit? Geht noch ein wenig Lust hinein? Noch ein Bedürfnis unbefriedigt?
Wer kein Eis oder Fischbrötchen in der Hand hat, der hält ein Segel zum Surfen. Die anderen fliegen oder reiten auf der Banane. Die schönen Jahre gehen so schnell vorbei.
Die Jugend wirkt gelangweilt, lümmelt sich auf Stühlen und Liegen, ist jedoch ausgesprochen höflich. Der Protest als Attitüde, im tiefsten Inneren eine formbare Masse. Das Handy als Minifest der persönlichen Freiheit.
Wächst Europa zusammen? Wächst die westliche Welt zusammen? Amerikaner reden doppelt so laut wie Europäer. Die meisten wirken wie große Kinder. Wie lange werden sie noch das Sagen haben? Die Holländer haben die europäische Verfassung abgelehnt. Wer in Amsterdam auf dem Fahrplan nach Zügen sucht, die die Landesgrenzen überschreiten, wird auf einen Extra-Plan verwiesen. „Internationale Züge“ steht da, es ist nicht mehr als eine Handvoll. Erstaunlich für ein Land im Zentrum Europas. An der Grenze muss der Zug die Lok wechseln wie auf dem Weg nach Moskau. Die Spurbreite stimmt zwar überein, doch die Stromsysteme sind verschieden.
Man kann sich über alles aufregen und muss dies dennoch über nichts. Es ist wie eine riesige Käseglocke, die über uns allen hängt. Die großen Konflikte liegen lange hinter uns. Oder ist schlichtweg einfach Sommer? Wohl dem, der wenigstens im Sommer keine anderen und wirklich brennende Sorgen hat. Und selbst wenn es brennt – in 999.999 von einer Millionen Fällen brennt es bei jemand anderem und nicht bei einem selbst. Dann kann man sich schon gruseln vor dem Ferneseher – und denkt: Wie gut es uns doch geht.
Doch dann guckt man hinunter: Der Bauch ist zu dick, die Füße geschwollen, die Bräune nicht überzeugend. Kann man mit dem eigenen Urlaub bestehen? Muss man nicht eigentlich unzufrieden sein? Aber bald ist Herbst, da ist man es sowieso.
|